Drohne, Drohne, schieß einmal

Der Tag, an dem die Erde umschlug

Tag 31: Ein Tag wie jeder andere; vorerst. Wir starteten wie üblich. Sabine war die erste, die über den Hügel durch den Ausgang kletterte und spähte. Kein Feindkontakt, alles sicher. So gingen ein paar Arbeiterinnen und ich raus und hielten Ausschau nach Essbarem. Die letzten Eier sind inzwischen geschlüpft und die Neuen brauchen Futter. Tatsächlich wurden wir fündig: Offenbar hat diese riesige Bestie wieder etwas an diese unsichtbare Wand gezaubert – man kann es riechen, das muss er gewesen sein. Naja, immerhin verhungern wir in diesem Gefängnis nicht. Man gibt uns hier immer wieder andere tote Lebewesen, kleingehackt. Nicht, dass uns das stören würde, aber das Procedere muss einer Höllenmaschinerie gleichen. Kaum auszumalen, was die durchgemacht haben müssen. Was man auf jeden Fall feststellen muss, ist, dass uns das zu trocken ist. Zum Glück haben wir auf der anderen Seite des Geländes eine weitere Vorrichtung entdeckt und sind dabei auf Honig gestoßen. Unsere Köchin Corinna konnte mit Bravur beweisen, warum sie diesen Job hat: So wurde das Fleisch eingelegt und für den späteren Verzehr kandiert. Unsere Herrin liebt dieses Zeug! Gerade jetzt, wo die letzten Kinderchen aus der Stube sind, hat sie ein bisschen mehr Zeit für sich, ich glaube, das tut ihr ganz gut. Roberta, unsere liebe und begabte Baumeisterin, war damit beschäftigt, das Dach weiter auszubauen und so verging der Tag ganz entspannt.

Aber dann war Bestie Benjamin wieder da. Erst setzte es sich hin, dieses Ungetüm, vor unser Gefängnis und presste sein ungeheures Gesicht fast gegen die Gefängniswand. Das ist nichts, was uns noch total beängstigt, denn das macht die Bestie sehr oft. Dennoch ist in diesem Moment der Trubel immer der gleiche: Unsere Aufpasserinnen im Nest rennen wild umher und versuchen, die Herrin und die Eier (wenn vorhanden) zu schützen. Sie selbst macht dabei übrigens stets mit, eine wirklich gute Persönlichkeit. Wir beruhigten uns und die Situation war vorrübergehend geklärt.

Nach einer kurzen Verschnaufpause änderte sich aber alles. Ohne Vorwarnung bebte der Boden unter unseren Füßen immens und wir hatten Probleme die Orientierung zu halten. Sogar unser Nest setzte sich in Bewegung – wo war oben; wo war unten? So schnell dieses Unglück kam, verging es auch wieder. Sofort begannen wir mit der Kontrolle: Durchzählen – alle da. Keiner war verletzt. Es dauerte kurz und dann sahen wir es; unser Eingang! Wir waren verschüttet. Roberta nahm sich zwei Arbeiterinnen und machte sich pflichtbewusst umgehend an die Arbeit. Stein für Stein wurde gepackt und zur Seite geräumt. Nach ein paar Minuten hatte Späherin Sabine auch schon wieder die Möglichkeit, das Nest zu verlassen und Ausschau zu halten. Freiheit! Zumindest dachten wir das kurz. Denn innerhalb unseres Gefängnisses gab es nichts Neues. Nur die Umgebung hatte sich verändert. Wir brauchen also mehr als Glück und Geduld. Chronik Karl

Ameisentagebuch

Mittwort

Hallo Leute, ich hoffe euch hat der etwas andere Bericht gefallen. Die Tagebücher waren aufgrund der sehr kleinen Schrift extrem schwer zu lesen. Das ist der einzige Grund, warum ihr dieses Mal so lange bis zum nächsten Eintrag warten musstet. Sorry, Leude!

Und Sorry, meine lieben Ameisen. Als ich euch umgeräumt habe, habe ich echt nicht daran gedacht, dass ein Reagenzglas rund ist und rollen kann. Ich hoffe, ihr lest meine Entschuldigung – das WLAN ist auf jeden Fall gut.

Das wäre auch alles nicht passiert, wenn sie in den eigentlichen Nestbereich des Formicariums eingezogen wären. Nach diesem kleinen Unfall kam auch die Idee zustande, die Ameisen einfach aus dem Glas zu kippen, sodass sie gezwungen wären, die neue Bude zu beziehen. Aber irgendwie bringe ich das nicht über’s Herz. Durch meine Weichlichkeit ist auch die Idee vom Tisch, ein zweites Volk zu kaufen und beide nach gewisser Zeit (im Namen der Wissenschaft) gegeneinander kämpfen zu lassen.

Die Bedeutung von Königlichkeit

Anders als in dem Bericht oben dargestellt, ist die Königin einiger Kolonien zwar der Dreh- und Angelpunkt, aber keineswegs die Herrin. Sie erteilt keine Befehle, gibt keine Strukturen vor oder sonst irgendwas. Sie ist in ihren Verhaltensmöglichkeiten sogar so weit eingeschränkt, dass sie im physischen Sinne gar nicht im Stande wäre, Befehle zu erteilen. Sie ist verantwortlich für die Nachkommen und die Reproduktion von Genkopien der Kolonie. Eine „Eilegemaschine“. Aber das ist nicht immer so. Denn nach dem Schwarmflug, wenn die befruchtete Königin zur Frau wird, knabbert sie ihre Flügel ab und läuft und läuft und läuft. Bis sie einen Ort findet, den sie für einen Bau geeignet hält. Okay, die meisten werden von anderen Tieren gejagt und gefressen, aber angenommen, die Königin findet einen Platz. So ist sie in der Anfangszeit allein und macht auch alles allein. Sie sucht sich Futter, sie buddelt, sie baut und fängt irgendwann an, Eier zu legen, die sie versorgt bis die ersten Arbeiterinnen geschlüpft sind und ihre Arbeit aufnehmen. Das Procedere dauert mehrere Wochen an, in denen sie vollkommen autark lebt.

Mit den ausgewachsenen Kindern gibt sie ihre Eigenständigkeit immer weiter auf und „degeneriert“ gewissermaßen zur Eilegemaschine, sodass sie nichts anderes mehr macht. Sie wird gefüttert, sie wird geputzt. Vergleiche zu uns Menschen möchte ich an dieser Stelle wegen guter Manieren aber nicht machen.

Aha, und wie geht es mit einer Kolonie weiter? Woher kommen die Prinzen? Woher die Prinzessinnen?

Das ist relativ schnell erklärt, mindert aber meiner Meinung nach nicht die Genialität. Denn es ist ganz simpel: Die Königin kann beim Entwickeln der Eier eine Entscheidung treffen. „Lasse ich beide Samenkanäle offen und befruchte die Eier mit den Samen, des Prinzen von damals oder nutze ich nur meinen eigenen?“ Bei ersterer Wahl entstehen damit immer Weibchen, bei zweiterer immer Männchen. In den ersten Generationen einer Kolonie wird stets die Weibchenproduktionsschleife angeworfen, denn was die Kolonie braucht, ist Arbeitskraft.

Sobald die Population auf einem bestimmten nummerischen Niveau ist, lässt die Königin die Fremdspermien immer wieder mal weg und Männchen entstehen. „Prinzen“ ist offen gestanden ein wenig zu viel gesagt. Denn bis auf wenige Ausnahmen (also nur bei wenigen Ameisenarten) können die Männer nix und machen auch nix. Das altenglische Wort „Drohne“ ist hier ziemlich zutreffend. Im Wortursprung bedeutet es sowas wie „Schmarotzer“, also jemanden, der von der Arbeit anderer lebt. Sie werden in der Regel von den Frauen nur geduldet, weil diese bis obenhin mit Sperma beladenen Artgenossen für die Weitergabe der Gene der Kolonie befähigt sind. Alt werden die übrigens auch nicht. Denn nach der Samenweitergabe erfüllen sie keinen Zweck mehr. Ob sie sich dabei leer pumpen bis das Leben aus den Körpern verschwindet oder sie durch ihre gelebte Polyamorie während des Schwarmflugs Opfer der Arbeiterinnen werden, ist mir noch nicht ganz klar. Beide Vorstellungen finde ich aber irgendwie witzig.

Bei den Arbeiterinnen ist es anfangs so, dass sie noch etwas kleiner sind und mit fortlaufenden Generationen wachsen. Ebenso wie ihre Gebärmütter. Wo am Anfang quasi keine Aktivität besteht, prägt diese sich immer mehr aus, bis es irgendwann bei einzelnen Tieren zu Flügelausbildungen kommen kann. In der Regel setzt eine Königin allerdings die meiste Zeit des Jahres ein Sekret ab, dass es verhindert, dass sich neue Königinnen aus den Arbeiterinnen entwickeln. In seltenen Fällen ist es tatsächlich sogar so, dass es zu einer Art Aufstand kommen kann, wenn es zu viele dieser Prinzessinnen gibt. Diese töten dann die Mutter und besteigen im Game-Of-Thrones-Style den „Thron“ der Kolonie.

giphy

Auch wenn die Königin bestimmt, ob es Männchen oder Weibchen geben soll und sogar, welcher Kaste diese angehören sollen, sind es die Arbeiterinnen, die quasi parlamentarisch die absolute Macht der „Herrscherin“ flankieren können. Denn sie kümmern sich um die Brut und gestalten dabei letztendlich den tatsächlichen Mix einer Kolonie indem sie diese Füttern oder sterben lassen.

Ich hoffe, ihr hattet Freude an dem Beitrag und müsst nicht so lange bis zum nächsten warten. Ich freue mich sehr auf eure Rückmeldungen.

In stiller Liebe,

Benjamin

Hinterlasse einen Kommentar